Die Hoffnung, dass der Anstieg häuslicher Gewalt eine unliebsame Begleiterscheinung der Coronazeit sei, wurde bitter enttäuscht. Vielmehr setzt sich der Negativtrend fort. Im zurückliegenden Jahr sind deutlich mehr Fälle als im vergangenen gemeldet worden. (1)
2022 registrierten die Behörden 240.547 Fälle von Gewalt in Partnerschaften. Der Anstieg zum Vorjahr liegt bei 8,5 Prozent. Das entspricht 432 Fällen pro Tag. Rund 80 Prozent der Opfer waren Frauen. Als Täter werden dem Bericht zufolge Partner:innen, Ex-Partner:innen und Familienangehörige erfasst, d.h. Menschen, die einem nahe stehen. Bei der innerfamiliären Gewalt seien die meisten Opfer Kinder. Ihr Anteil macht mehr als ein Drittel aus. Es ist ein Thema aller gesellschaftlicher Schichten und kommt in den „besten Familien“ vor.
Häusliche Gewalt beginnt nicht erst mit dem körperlichen Übergriff. „Eifersucht, verbale Ausfälle, subtile oder offene Demütigungen, die völlige Isolation des Opfers vom sozialen Umfeld – all das sind Formen der Gewaltausübung. Meistens, um totale Kontrolle über das Opfer zu erlangen,“ erklärt Dr. Ludmila Peregrinova, Abteilungsleiterin des Interventionsbereichs bei INSITE-Interventions.
Es ist schwer, sich aus dieser Gewaltspirale sich zu befreien. Oft erfordert es Überwindung – und so paradox es klingen mag - Mut. „Weil das Thema oft im privaten Bereich angesiedelt ist, sind Schuld- und Schamgefühl groß“, so Dr. Peregrinova. „Das Erleben der Gewalt in einem augenscheinlich sicheren Umfeld kann verängstigen, belasten, beschämen und traumatisieren.“
Mit Blick auf die hohe Betroffenenzahl von Kindern gibt sie zudem zu Bedenken: „Unsere Kinder nehmen wahr, lernen und verinnerlichen im schlimmsten Fall, dass Gewalt die Lösungsstrategie ist und nur der Stärkere gewinnt.“
Mut und Entschlossenheit verlangt es auch vom Umfeld und der Gesellschaft. „Werden wir Zeugen von Gewalt in unserem Umfeld, ist es wichtig, nicht die Augen zu verschließen und zu hoffen, dass es eine Ausnahme war. Unterstützung kann auf unterschiedliche Weise erfolgen: sei es, dass wir nach Hilfsangeboten recherchieren, gemeinsam zu Anlaufstellen gehen oder in Kontakt bleiben und uns nicht vertrösten lassen.“ Denn oft bedarf es des äußeren Anstoßes, dass das Opfer sich aus der Gewaltspirale befreit.
Ein Schritt aus der Situation kann der Griff zum Telefon sein. Bietet der Arbeitgeber eine EAP-Beratung an, kann es hilfreich sein, sich dort hinzuwenden, um sich als Betroffene:r oder als Angehörige:r beraten zu lassen. Auch welche Hilfsangebote es gibt oder welche Worte man wählen kann, um das Thema anzusprechen, kann Anlass für eine EAP-Beratung sein.
Bundesweit gibt es rund 400 Frauenhäuser, rund 100 Schutzwohnungen und mehr als 750 Beratungsstellen. Wer den Gang zur Polizei oder zu einer Beratungsstelle scheut, kann auch über Chats und Hilfetelefone Unterstützung erhalten. Dafür gibt es zum Beispiel zu jeder Uhrzeit das "Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen" unter der Nummer: 116016. Gut zu wissen: Der Anruf ist kostenlos, und die Nummer erscheint nicht auf der Telefonabrechnung. Die Beratung erfolgt vertraulich, auf Wunsch anonym und ist in 18 Fremdsprachen möglich. Für gewaltbetroffene Männer gibt es das Hilfetelefon "Gewalt an Männern" unter der Nummer 0800 1239900. Kinder, Jugendliche und Eltern können auch anonym und kostenlos unter dem Kinder- und Jugendtelefon "Nummer gegen Kummer", anrufen. Die Nummer lautet 116 111.
(1) siehe den ausführlichen Lagebericht der Bundesregierung zur häuslichen Gewalt 2022
Der Lagebericht, der auf den Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) beruht, erfasst nur das sogenannte Hellfeld, also die angezeigten oder polizeilich bekannt gewordenen Taten - nicht das Dunkelfeld.