Jemanden als narzisstisch abzustempeln, ist en vogue. Immer wieder gern wird Personen des öffentlichen Lebens Narzissmus attestiert. Besonders jenen, die nicht der eigenen Wertehaltung entsprechen.
Daniel Breutmann, EAP-Berater bei INSITE, schlüsselt heute die Bedeutung dieses Begriffes auf und gibt Einblicke in die Symptome von Narzissmus.
Der Begriff „Narzismuss“ hat seinen Ursprung in der römischen Mythologie. In den „Metamorphosen“ von Ovid(1) wird Narziss als ein schöner junger Mann beschrieben, der viele Verehrer und Verehrerinnen hatte - Doch sie alle interessieren ihn nicht, denn er ist nur von sich selbst fasziniert. Als er sein Bild in der Spiegelung des Wassers erblickt, entbrennt er vor Liebe und verzehrt sich so sehr nach sich selbst, dass er vor lauter unerfülltem Verlangen stirbt. Übrig bleibt nur die gelbe, namensgebende Blume.
In der heutigen Zuschreibung hallen noch einige Anklänge des antiken Mythos nach. Wir verwenden den Begriff in der Regel für Menschen, die sich allen weit überlegen, grandios und unwiderstehlich fühlen.
Etwas Selbstverliebtheit steckt in jedem und jeder von uns – und das ist gut so. Ein gesundes Selbstbewusstsein macht psychisch stabil und hilft uns, gut durchs Leben zu kommen. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, seinen Selbstwert zu erhöhen. Menschen, die die Zuschreibung narzisstisch erhalten, sind häufig begeisterungs- und durchsetzungsfähig und ziehen durch ihr Charisma viele Menschen in ihren Bann.
„In meiner Arbeit als EAP-Berater begegnet mir dieses Thema immer wieder an unterschiedlichen Stellen. Besonders Partner:Innen und Vorgesetzte, mit denen man im Konflikt liegt, werden gern als narzisstisch bezeichnet. Spannenderweise finden sich Hinweise auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vor allem dort, wo Klienten von selbst gar keine vermuten. Und manchmal zeigt sich, dass die Klienten durch ihr eigenes Verhalten die Reaktion des Gegenübers hervorrufen, die sie als narzisstisch bezeichnen.“, beschreibt Daniel Breutmann.
Oft erhalten Personen die Zuschreibung narzisstisch, denen es gut gelingt, sich abzugrenzen, eigene Bedürfnisse bestimmt zu vertreten und nicht zu verhehlen. Das kann den Eindruck erwecken, dass sie sich selbst sehr wichtig nehmen. Auch wenn dieses Verhalten zu Irritationen oder Verletzungen bei anderen führen kann, handelt es sich nicht unbedingt gleich um eine Störung. Dass wir so schnell bereit sind, andere als Narzissten zu bezeichnen, hängt vermutlich damit zusammen, dass wir das für uns seltsame Verhalten unserer Mitmenschen versuchen einzuordnen. Dabei legen wir nur allzu oft unsere eigenen Wertvorstellungen als Maßstab zugrunde.
Welche typischen Züge haben Narzissten?
Hinter der brillanten Fassade eines Narzissten, steckt ein verletzlicher Kern. Sie schaffen es, Menschen mit ihrer narzisstischen Persönlichkeit für sich zu begeistern und geben ihrem Gegenüber das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, solange sie Bestätigung erhalten. Auf diese Weise schaffen Sie enge Bindungen zu anderen Menschen. Auf der Kehrseite werden jedoch Kritik, Ablehnung und Missbilligung von Narzissten oft mit explosivem Verhalten gestraft.
Durch ihre Anspruchshaltung und eingeschränkte Fähigkeit, die Bedürfnisse anderer Menschen anzuerkennen, nutzen sie Mitmenschen zum Teil gnadenlos aus. Fremde Leistungen und Erfolge werden oft abgewertet - um sich großzumachen, müssen andere kleingemacht werden. Nicht selten beginnen die Betroffenen an ihrer eigenen Sichtweise zu zweifeln. Achtung: Eine Schlussfolgerung im Stil von „Wer keine Kritik verträgt, ist ein Narzisst“, ist dennoch unangebracht. Wie in vielen Situationen, gibt es hier natürlich Nuancen.
Was Laien klassischerweise unter Narzissmus verstehen, bezeichnet man in der Psychologie als „grandiosen Narzissmus“. Menschen, die dieser Form zuneigen, stellen ihre Großartigkeit öffentlich heraus. In einer wettbewerbsorientierten Welt können Menschen mit dieser Ausprägung durchaus sehr erfolgreich sein. Während diese Form leicht zu erkennen ist, ist das bei der zweiten Form, dem „vulnerablen/fragilen Narzissmus“, anders.
Menschen mit vulnerablem Narzissmus erscheinen auf den ersten Blick überhaupt nicht narzisstisch. Sie wirken vielmehr angepasst, zurückhaltend, manchmal verschüchtert oder leicht depressiv. Allerdings ist ihnen die gleiche Anspruchshaltung und Selbstbezogenheit wie grandiosen Narzissten zu eigen.(2)
Der Grundstein für eine narzisstische Persönlichkeit entsteht in der Kindheit. Erziehung und frühe Kindheitserfahrungen sind hier vermutlich prägend. Auch die genetische Prädisposition kann eine Rolle spielen. Doch gesichertes Wissen, warum jemand starke narzisstische Persönlichkeitszüge entwickelt, gibt es nicht. Daher ist ein sensibler Gebrauch der Sprache ratsam.
Die Psychotherapie hat in den letzten Jahren große Fortschritte in der Behandlung von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen gemacht. Vielen Betroffenen kann glücklicherweise gut geholfen werden. Für den Therapeuten besteht bei der Arbeit die große Herausforderung darin, an ihre empfindsame, verborgene Seite heranzukommen. Klientinnen und Klienten können lernen, wie man eigene Bedürfnisse auf sozial bekömmliche Weise kommuniziert, Gefühle ausdrückt und sich besser in andere Menschen hineinversetzt.
„Was auch immer es ist und wie auch immer es sich zeigt: In der Beratung können wir Umgangsweisen mit diesem Verhalten erarbeiten.“, so Daniel Breutmann.
Bevor wir das nächste Mal unser Gegenüber als narzisstisch abstempeln, etwa weil es selbstbewusst seine Bedürfnisse vertritt, sollten wir uns fragen, ob wir uns vielleicht dadurch selbst entlasten wollen? Manchmal ist es einfacher, Verantwortung an jemand anderen abgeben zu wollen, als Verantwortung für sich selbst zu übernehmen – im Guten wie im Schlechten.
(1) Zum Nachlesen: Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, Liber III, Narcissus du Echo (3, 339-510)
(2) www.therapie.de/psyche/info/index/diagnose/narzissmus/die-drei-typen/