Schaut man sich auf Websites von manchen EAP-Anbietern um, wird im Konkurrenzkampf um begrenzte Marktanteile häufig das Digitale zugunsten der herkömmlichen Beratungsformen ausgespielt. Etwas spitzzüngig wird anerkannt, dass die herkömmlichen Anbieter ihre Stärke in der Krisenintervention hätten, welche oft vor Ort stattfänden. Für alle anderen Anliegen aber wäre eher die Digitalberatung, sei es Chat, App oder Video, das zeitgemäße Mittel der Wahl.
Klar, wir sprechen bei einem EAP nicht über eine Therapie, sondern eine Beratung, ein Coaching, eine Kurzzeit-Intervention. Ein EAP folgt zuallererst dem Präventionsgedanken. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Vorort-Beratungen ist daher berechtigt.
Doch lässt sich dieser Gegensatz so aufrechterhalten? Und ist er überhaupt ein Gegensatz?
Hinter diesem Gegensatzpaar steckt mehr oder minder verklausuliert die Frage: Brauchen EAP-Anbieter überhaupt noch eine Vorort-Beratung, oder ist das total veraltet?
Ein Blick auf das Nutzerverhalten spricht eine deutliche Sprache. Dr. Ludmila Peregrinova, Leiterin des Interventionsbereichs bei INSITE, einem der großen EAP-Anbieter in Deutschland, konstatiert:
„Auch in Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung und digitalen Möglichkeiten nimmt die 4-Augen-Beratung wieder zu. Vor Ort zu sein und sich gemeinsam mit einer Beraterin oder einem Berater in einem Raum zu treffen ist ein relevantes Beratungssetting. Einige Menschen schätzen, gerade wenn sie über schwierige Themen sprechen, die vertrauensvolle Atmosphäre des Zusammenseins.“
Die Telefonberatung lag 2023 trotz aller Digitalisierungsangebote immer noch auf Platz 1. Doch schon auf Platz 2 folgte die Vorort-Beratung mit mehr als 8.000 Beratungen. Auf die Frage, ob diese Vorort-Beratungen alles Kriseninterventionen seien, antwortet Dr. Peregrinova:
„Zum Glück nicht nur! Wir beobachten, dass diese Beratungsform bei Menschen wieder mehr geschätzt und bevorzugt wird. In vielen Fällen ist sie sogar sehr wichtig!“
Bspw. wenn es um Anliegen im familiären Umfeld geht, bei dem mehr als nur eine Person beraten wird – sei es ein Paar oder Eltern mit Kindern –, ist eine Vorort-Beratung sehr sinnvoll. Auch beim Verdacht auf psychische Erkrankungen sollte eine valide Beratung vor Ort stattfinden. Und zu guter Letzt können auch Team- und Führungskonflikte, Mediationen, Supervision oder kollegiale Fallbesprechungen stark vom Vor-Ort-Setting profitieren.
Es gibt nach wie vor eine große Anzahl an Menschen, die bei einem Beratungsgespräch ihrem Gegenüber persönlich begegnen und unbedingt eine räumliche Distanz zwischen sich und ihr Büro oder ihr häusliches Umfeld bringen möchten. Auch wenn sie sonst in ihrem Leben digital unterwegs sind und die Vorzüge zu schätzen wissen. Ein echtes Treffen vor Ort gewinnt – auch dank der Digitalisierung – wieder mehr an Wert und erlebt eine Renaissance.
„Wir sollten nicht das eine gegen das andere ausspielen. Gut ist, wenn man mehrere Beratungssettings vorhalten kann.“, fasst die psychologische Psychotherapeutin Dr. Peregrinova zusammen. „Der digitale Zugang, auch die Möglichkeit einer Beratung per Chat oder App sind unerlässlich. Die Hürden sind niedrig, die zeitliche und räumliche Unabhängigkeit ein immenser Vorteil. Und natürlich bieten wir das unseren Klientinnen und Klienten auch an. Aber auch ein persönliches Gespräch, eine persönliche Begegnung im Beratungskontext ist hilfreich und wertvoll und fördert die Verbindlichkeit. Die Zahlen spiegeln das deutlich wider.“
Gut, wenn man als Betroffener wählen kann - denn das eine tun, heißt ja nicht, das andere zu lassen.